Ercan Richter
Zum Zyklus der Birken

In Zeiten eines grenzenlos erweiterten Kunstbegriffs, in denen es vielen zeitgenössischen Kunstschaffenden unmöglich erscheint, noch mit den „traditionellen" Mitteln der Malerei auf aktuelle Fragestellungen einzugehen und diesem Medium eigene gestalterische Aussagen abzugewinnen, sind für den Maler Ercan Pinsel und Leinwand das am besten geeignete Handwerkzeug, um mittels Form, Farbe und Linie seine künstlerischen Ideen zu verwirklichen. Er erarbeitet seine Themen häufig in Form von Bildserien. Diese Arbeitsweise bietet ihm die Möglichkeit, sich sowohl formal als auch inhaltlich erschöpfend mit einem Thema auseinander zu setzen und die unterschiedlichen Aspekte des selben Sujets zu Gestalt zu bringen. Seine Zyklen erlauben seitens der Betrachtenden eine Annäherung auf der rein sinnlichen Ebene, ihnen ist jedoch auch stets eine weitere, symbolische Dimension eingeschrieben. Serien der jüngsten Vergangenheit sind beispielsweise Ercans Reihe der „Siamesischen Zwillinge" aus den Jahren 1991-2000, die die Zerrissenheit des Menschen und das dialektische Prinzip verkörpern - oder die Maskenbilder, die das Gespaltensein der menschlichen Persönlichkeit und die Diskrepanz zwischen authentischem Sein - dem wahren Gesicht - und dem tagtäglichen Maske-Tragen illustrieren. Mit seiner Birkenserie erreichte Ercan einen neuen Abstraktionsgrad. Nicht der ganze Baum, gar eingebettet in einen landschaftlichen Raum, ist sein Thema. Vielmehr wird nur ein Detail des Stammes erfasst, die Bildränder korrespondieren mit den Schnittstellen des Baumes. Die grossformatigen Bilder unterscheiden sich einzig in der Beugung dieses Stammausschnittes und in der wechselnden Struktur der Rinde. Die formale Reduktion korrespondiert dabei mit der farblichen. Die Bilder sind Variationen von Weiss-, Grau- und Schwarztönen, denen der Maler jedoch ein ungewohnt breites Spektrum abzugewinnen versteht. Die Intensität des einzelnen Stammes erfährt durch die Wiederholung des Sujets eine gewaltige Steigerung. Der dunkle Hintergrund verleiht den Gemälden eine Schwere und Strenge, die jeder realistischen Wiedergabe der leuchtenden Birkenbäume widerspricht. Auch den Birkenbildern ist neben der unmittelbar anschaulichen Ebene noch eine tiefere Bedeutung eigen. Sie sind Resultat von Ercans persönlicher Auseinandersetzung mit dem Thema der Familie und des Staates. Die Familie verkörpert früheste natürliche Einheit, in die wir allerdings hineingeboren werden ohne Wahl, steht demgemäss zwar für Geborgenheit, Zusammenhalt, Nähe und Unterstützung, aber auch für grösste Fremdheit und Gewalt. Ebenso bedeutet jedes Staatsgebilde einerseits Halt, Festigkeit und Schutz, andererseits aber auch Verletzung und Unterdrückung der individuellen Persönlichkeit. Die farblichen Kontraste im Birkenstamm versinnbildlichen die Gegensätze. Die Stärke und Kraft des mächtigen Stammes wird aufgebrochen durch die gespaltene Rinde, die wie Wunden auf die tieferliegenden Verletzungen verweist. Diese Interpretation des Malers ist jedoch keineswegs zwingende Voraussetzung, um den Geist seiner Bilder zu verstehen. Sie bestehen auch rein in ihrer visuellen Ausdruckskraft, jede weitere Deutung sei den Betrachtenden freigestellt.

Dr. Bettina Richter, Kunsthistorikerin

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